Der Begriff (Schnéi-)wick kommt nach Ausweis der Luxemburger Wörterbücher sowie der Wörterbücher der deutschen Nachbarmundarten nur in Luxemburg vor. Das WLM vermerkt das Simplex Wick f. ‘durch den Wind zusammengewehter Schnee’. Ähnliches ist im LWB zu lesen; daneben werden hier einige Varianten angeführt:

{xtypo_sticky}Wick II, Wéik, Wéck F.: «Schneewehe» — d’Autoë sin an de Wicke stieche bliwwen.{/xtypo_sticky}

Darüber hinaus erscheinen für das Kompositum im LWB ein eigener Eintrag und weitere Nebenformen:

{xtypo_sticky}Schnéi- […] -weckt, -wächt, -wéik, -wick F.: «Schneewehe» — kurz: Weckt.{/xtypo_sticky}

Es fällt auf, dass die Variante Wéck nur als Simplex angegeben ist, während umgekehrt die Varianten -weckt, -wächt nur in Verbindung mit Schnéi- notiert sind. Daraus lässt sich schließen, dass Wéck, -wächt die selteneren und Wick, Wéik, Weckt (-wick, -wéik, -weckt) die häufigeren Varianten sind.

Die Frage ist nun: Woher stammen all diese Varianten, von denen, wie wir gleich sehen werden, gleich mehrere typisch nur für Luxemburg sind?

Wenn wir einen Blick auf das Mittel- und Althochdeutsche werfen, stellen wir fest, dass sich dort keine direkten Entsprechungen finden lassen. Trotz der fehlenden Belege aus mittel- und althochdeutscher Zeit müssen wir annehmen, dass es sich bei Wick, Wéik und ggf. weiteren Varianten um sehr alte Bildungen handelt, da in diesem Fall eine Entlehung (allenfalls aus dem Französischen) auszuschließen ist.

Konzentrieren wir uns zunächst auf die häufigeren Varianten Wick und Wéik. Diese sind etymologische Gleichungen, da sich beide auf eine gemeinsame Vorform mhd. *wieke zurückführen lassen. Der Diphthong mhd. ie wurde speziell im Mitteldeutschen des 11. und 12. Jhs. zu ī monophthongiert.[1] Im Zentralluxemburgischen wurde dieses ī in dieser Position zu i gekürzt, während es im Ostluxemburgischen (wie in jeder Position) zu éi diphthongiert wurde. Daher heißt es einerseits (Schnéi-)Wick, andererseits (Schnéi-)Wéik, so wie z. B. zentrallb. bidden versus ostlb. béiden < mhd.-wmd. bieden ‘bieten’.

Es darf als sehr wahrscheinlich gelten, dass lb. Wick, Wéik mit standardnhd. Wiege, lb. Wéi etymologisch verwandt ist. Standardnhd. Wiege stammt aus mhd. wige, wiege = mhd.-md. wīge[2] < ahd. wiga, wiega. Lb. Wéi lässt sich dagegen nur auf die Variante mhd.-md. wīge < mhd. wiege < ahd. wiega abbilden. Entsprechungen zum Wort für Wiege außerhalb des Hochdeutschen sind mnd. wēge, mnl. wieghe, afr. widze, wigge. Die Formen mit einfachem i basieren auf g. *wegjō f. ‘Wiege’,[3] jene mit ie sowie wohl auch mnd. wēge auf g. *wewgān. Darüber hinaus sind die Nebenformen ahd. waga und an. vagga bezeugt – letztere mit Intensivgemination. All diese untereinander im Ablaut stehenden Varianten des Substantivs für Wiege sind spätestens germanische Ableitungen zu einem Verb *wegan und verwandten Bildungen *wagjan, *wagōn, deren gemeinsame Grundbedeutung ‘bewegen’ ist.[4] Die indogermanische Wurzel ist *weģʰ- ‘bewegen, ziehen, fahren u. dgl.’[5] bzw. ‘schweben, fahren’.[6] Das Substantiv g. *wewgān ‘Wiege’ zeigt Reduplizierung der Verbalwurzel mit Schwundstufe des Wurzelvokals. Die Grundbedeutung der reduplizierenden Verbalwurzel ist somit ‘hin- und herbewegen, schaukeln’.[7]

Dieselbe reduplizierende Wurzel wie für das Wort für Wiege und außerdem mit Intensivgemination wie im Verb an. vagga könnte für das Substantiv lb. (Schnéi-)Wick angenommen werden. Konkret würde gelten: idg. *weģʰ- *we-wģ- > g. *wewg- → *weuggān f. > wg. *weogga > ahd. *wiocka > mhd. *wiecke > *wieke > mhd.-md. *wīke > lb. Wick, Wéik.

{xtypo_info}Eine Wick oder Schnéiwick wäre somit ursprünglich die sich Hin- und Herbewegende.{/xtypo_info}

Kommen wir nun zu den übrigen Varianten: Die Variante (Schnéi-)wächt hat ihre Entsprechung in standardnhd. Wächte ‘Schneewehe’, ‘Schneeüberhang auf einem Berg’. Dieses ursprünglich vom Schweizerdeutschen ausstrahlende Substantiv wird in den etymologischen Wörterbüchern[8] und bereits im DWB zum Verb wehen gestellt. Das Schweizerische Idiotikon vermutet eine t-Bildung zu ahd. wāhen ‘wehen’ mit dem Umlaut von wǟjen.

{xtypo_info}Eine Wächte oder Schneewächte wäre demnach ursprünglich die „Wehung“ und damit, im Gegensatz zu Wick, Wéik, in der Tat von wehen abgeleitet.{/xtypo_info}

Lb. Wick (Wéik) einerseits und Wächte andererseits gehören also etymologisch nicht zusammen. Doch aufgrund der semantischen Nähe zwischen den beiden Wörtern konnten diese nicht nur semantisch angeglichen, sondern auch lautlich vermischt werden. So scheint die Variante lb. (Schnéi-)weck aus -wick und -wächt kontaminiert zu sein; und lb. (Schnéi-)wéck scheint eine Kompromissform zwischen -wick und -weck darzustellen. Diese beiden Nebenformen dürften jedoch rezent sein; zum einen aufgrund ihrer Seltenheit, zum anderen, weil -wächt kaum erbwörtlich ist, sondern unmittelbar aus der deutschen Schriftsprache importiert ist.

 

Cristian Kollmann

 

Abkürzungen

afr.
altfriesisch
ahd.
althochdeutsch
an.
altnordisch
f., F.
Femininum
g.
germanisch
idg.
indogermanisch
lb.
luxemburgisch
m.
Maskulinum
mhd.
mittelhochdeutsch
mhd.-md
mittelhochdeutsch-mitteldeutsch
mhd.-wmd.
mittelhochdeutsch-westmitteldeutsch
mnd.
mittelniederdeutsch
mnl.
mittelniederländisch
wg.
westgermanisch

 

Literatur

Duden 2007 = Duden. Das Herkunftswörterbuch. 4. Auflage. Mannheim 2007.

DWB = Deutsches Wörterbuch. Von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. Leipzig 1854–1960. URL: http://www.woerterbuchnetz.de

Kluge/Seebold 2002 = Kluge Friedrich/Seebold Elmar: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage. Berlin/New York 2002.

IEW = Indogermanisches etymologisches Wörterbuch. Von Julius Pokorny. Tübingen und Basel 1959.

Lexer = Lexer, Matthias 1872–1878: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bände. Leipzig. Nachdruck Stuttgart 1970. URL: http://www.woerterbuchnetz.de

LIV = Lexikon der indogermanischen Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Von Helmut Rix. 2. Auflage Wiesbaden 2001.

LWB = Luxemburger Wörterbuch. Herausgegeben von der Wörterbuchkommission. 5 Bde. Luxemburg 1950–1975. Ergänzungsband 1977. URL: http://engelmann.uni.lu:8080/portal/WBB2009/LuxSuche/LWB/wbgui_py

Mhd. Gr. = Mittelhochdeutsche Grammatik. Von Hermann Paul. 25. Auflage neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera und Heinz-Peter Prell. Tübingen 2007.

Pfeifer 2005 = Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 8. Auflage. München 2005.

Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bearbeitet von Friedrich Staub, Ludwig Tobler u. a. Frauenfeld 1881 ff. URL: www.idiotikon.ch

Seebold 1970 = Seebold Elmar: Vergleichendes etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Den Haag/Paris 1970.

WLM = Wörterbuch der luxemburgischen Mundart. Luxemburg 1906. URL: http://engelmann.uni.lu:8080/portal/WBB2009/LuxSuche/WLM/wbgui_py

 


[1] Vgl. Mhd. Gr., S. 44.

[2] Vgl. Lexer

[3] Vgl. Seebold 1970, S. 543.

[4] Vgl. Seebold 1970, S. 542–543; Kluge/Seebold 2003, S. 188 und 988.

[5] Vgl. Seebold 1970, S. 544; IEW, S. 1118.

[6] LIV, S. 661.

[7] Vgl. Kluge/Seebold, S. 988.

[8] Kluge/Seebold 2002, S. 966; Pfeifer 2005, S. 1529; Duden 2007, S. 917.

afr.                   altfriesisch

ahd.                 althochdeutsch

an.                   altnordisch

f., F.                 Femininum

g.                     germanisch

idg.                  indogermanisch

lb.                    luxemburgisch

m.                    Maskulinum

mhd.                mittelhochdeutsch

mhd.-md.        mittelhochdeutsch-mitteldeutsch

mhd.-wmd.     mittelhochdeutsch-westmitteldeutsch

mnd.                mittelniederdeutsch

mnl.                 mittelniederländisch

wg.                  westgermanisch

wmhd.             westmittelhochdeutsch