Zahlreiche luxemburgische Theater und Kulturhäuser, allen voran das hauptstädtische Grand Théâtre, lassen selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine deutliche Präferenz für den zeitgenössischen Tanz erkennen. Wenngleich international renommierte Kompanien nach wie vor ein Garant für grosse Publikumserfolge bleiben, übernehmen immer mehr Institutionen die Produktion oder Koproduktion einheimischer Choreografien.  Entgegen der geläufigen Auffassung verfügt das Grossherzogtum über eine aktive, sich zumehmend professionalisierende zeitgenössische Tanzkunstszene. Das Centre de Création Chorégraphique Luxembourgeois (TROIS C-L) widmet sich als zentrales Repräsentationsorgan aller damit verbundenen Prozesse einem vielfältigen Aufgabenspektrum, das Produktion, Präsentation im In- und Ausland, künstlerische Weiterbildung, Nachwuchsförderung sowie Integration in internationale Tanznetzwerke umfasst. Die Mehrzahl der etwa dreißig in Luxemburg tätigen professionellen Tänzer und Choreografen wurde und wird von TROIS C-L gefördert.

Die  grenzüberschreitende Dimension seines Wirkens beweist TROIS C-L nicht nur in der Ausrichtung des jährlich stattfindenden Festivals Le Transfrontalier oder im Angebot von verschiedenen Austauschprogrammen im europäischen Ausland, sondern auch im Bereich der künstlerischen Produktion. Hier schliesst es sich einer weltweit bestehenden Tendenz an, klassische Choreografien unter Beibehaltung des technischen Qualitätsstandards im Sinne einer zeitgenössischen Ästhetik  neu zu formulieren; Matthew Bornes ausschliesslich mit männlichen Tänzern besetzte Version des Schwanensees (1995) oder Gary Stewards radikale Neuinterpretation einiger Paradestücke des akademischen Tanzes – Birdbrain aus dem Jahr 2000 sowie G von 2008 etwa – sind lediglich zwei hierfür illustrative Beispiele. Vor diesem Hintergrund ruft das Zentrum TROIS C-L zu Weihnachten 2008 eine Veranstaltungsreihe ins Leben, die Spectacles de Noël, in deren Rahmen verschiedene in Luxemburg aktive Tanzkünstler den Darstellungskodex klassischer Choreografien einer persönlichen Revision unterziehen. Den Beginn markiert La mort des cygnes, die Dekonstruktion einer Choreografie von Michail Fokin aus dem Jahr 1905, getanzt von der legendären Anna Pavlova zu einem Auszug aus Camille Saint-Saëns’ Carnaval des animaux. 2009 folgt mit Mais qui est Casse-noisette? eine zeitgenössische Reflexion des Klassikers schlechthin. Von den zwei heiligen Monstern des Mariinski-Theaters, Marius Petipa und Lew Iwanow nach der Musik von Piotr I. Tschaikowski und einem auf E.T.A. Hoffmann zurückgehenden Libretto choreografiert, bleibt der Nussknacker bis heute der Inbegriff des romantischen Handlungsballetts. In der Titelfigur einen desillusionierten Rocker oder gar Barack Obama zu erkennen, zeugt von der Vielschichtigkeit der Gestalt, der sich sogar Sigmund Freud annimmt, sowie vom kreativen Potential der TROIS C-L-Künstler.

Mit Les après-midis d’un faune rekkuriert die diesjährige Weihnachtsaufführung überraschenderweise nicht auf ein Stück des klassischen Repertoires, sondern auf eine als unumstösslich erachtete Ikone der Moderne. Ab 1909 gelingt dem Impresario Sergei Diaghilew, ein aus Tänzern, Choreographen, Komponisten und Malern bestehendes Künstlerkollektiv zu etablieren, das namensgebend für eine ganze Tanzepoche wirkt: die Ballets Russes. Zwei Jahrzehnte feiert das Ensemble nicht nur triumphale Erfolge, es gelingt auch, die traditionelle Tanzauffassung und damit verbundene Sehgewohnheiten einem avantgardistischen Kunstverständnis gemäß zu revolutionieren. Während Michail Fokin als erster Choreograf der Ballets Russes trotz seiner Innovationen weitgehend dem räumlich-figuralen Repräsentationsgedanken des klassischen Tanzes verpflichtet bleibt,  entwirft sein Nachfoger Waslaw Nijinski mit den vier Choreografien L’après-midi d’un faune (1912), Le sacre du printemps (1913), Jeu (1913) und Till Eulenspeigel (1916) einen bis dahin gültige Konventionen verwerfenden Bewegungsstil sowie eine im heutigen Sinne moderne Bühnenästhetik.

L’après-midi d’un faune, getanzt zu Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune (1894) und inspiriert vom eponymen Gedicht (1876) Stéphane Mallarmés, wird am 29. Mai 1912 im Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführt. Der Faun, von Nijinski selbst inkorporiert, und die sieben um seine Gunst werbenden Nymphen operieren mit einem schlichten Bewegungsvokabular, das die physische Schwere betont und zugleich ein ambivalentes, halb-animalisches Körperbild vermittelt  – eine besonders für das an Nijinskis virtuose Sprungtechnik gewohnte Pariser Publikum schockierende Abweichung von der traditionellen Ästhetik. Wie Marie Rambert später jedoch eröffnet, handelt es sich dabei um ein äußerst schwer auszuführendes Bewegungsrepertoire; tatsächlich sind für die ausschließlich in der danse d’école ausgebildeten Tänzerinnen mehr als 100 Proben notwendig. Auch die Verwendung des Bühnenraums widerspricht mit ihrem Verzicht auf perspektivische Tiefe radikal der bisherigen Praxis. Ist die Choreographie in ihrer Gesamtheit dazu geeignet, den gültigen Rezeptionshabitus zu verletzen, sorgt die abschließende Szene mit ihrer unverhüllten Erotik – der Faun suggeriert einen Orgasmus, für welchen ihm der zurückgelassene Schal einer Nymphe als Fetisch dient – für eine Woge der Entrüstung; die Kritik von Gaston Calmette im Figaro vom darauffolgenden Tag wird zum Sprachrohr eines zutiefst befremdeten Publikums:

« Ce n’est ni une églogize gracieuse, ni une production profonde. Nous avons vu un faune inconvenant avec de vils mouvements de bestialité érotique et des gestes de lourde impudeur. »

Dem Erfolg der Saison tut dies jedoch keinen Abbruch; im Gegenteil, der Skandal trägt wesentlich dazu bei, die Anzahl der Engagements zu erhöhen. Nach der Auflösung der Kompanie findet die von Nijinski eingeleitete ästhetische Revolution Eingang in die traditionellen Ballettinstitute; L’après-midi d’un faune entwickelt sich rasch zu einer Galionsfigur des modernen Tanzes, die ganze Generationen von Choreografen zu eigenen Interpretationen inspiriert. Sidi Larbi Cherkaouis Faun (2009), eine auch im Grand Théâtre de Luxembourg aufgeführte Hommage an die hundert Jahre zurückliegende Geburt der Ballets Russes, ist das letzte prominente Beispiel hierfür.

Mit Les après-midis d’un faune lädt Bernard Baumgarten, der künstlerische Leiter des Zentrums TROIS C-L, fünf Choreografen zu einer persönlichen Lektüre dieses Manifests der Moderne ein.

Den Anfang macht Camille Mutel (Nancy) mit der Choreographie Etna! In der Tradition des japanischen butô ausgebildet, tritt sie nackt auf, wobei Lichtinstallationen ihren Körper in eine Projektionsfläche verwandeln, die Faun und Nymphe vereint. Die Darbietung Mutels distanziert sich bewußt vom herkömmlichen Tanzverständnis: sie ist weitgehend statisch, aus minimalistischen Bewegungsabfolgen konstruiert, die von Elementen höchster technischer Komplexität klimaxartig unterbrochen werden.

Jean-Guillaume Weis gelingt mit Faune eine humorvolle und selbstironische Annäherung an Nijinski. Ausgehend vom Epitheton « Gott des Tanzes », unter dem jener – vor allem aufgrund der Bestrebungen seiner Frau – in die Geschichte einging,  kombiniert auch der Luxemburger in « göttlicher Willkür » verschiedene Tanz- und Musikrichtungen; die Schlußbemerkung « Je ne sais pas, comment finir… » unterstreicht zusätzlich diese Arbitrarität.

Hannah Ma (Trier), deren Mitwirkung, genau wie die Camille Mutels, die großregionale Ausrichtung der Veranstaltung dokumentiert, hinterläßt mit ihrer Kreation Behind identity einen seltsam unentschlossenen Eindruck. Sowohl das Potential der Vorlage als auch das technische Vermögen der Tänzerin gehen in einer Fülle kontingenter Bewegungen beinahe unter; das Bühnenbild, die abstrakte Repräsentation einer üppigen Tropenlandschaft,  sorgt indes für weitere Konfusion. Wie aussagekräftig, wie fein nuanciert hingegen die scheinbare Lakonik Mutels !

Gianfranco Celestino bleibt mit Ces nymphes, je les veux perpétuer technisch und kompositorisch wenig signifikant, kompensiert jedoch die formellen Mängel durch die Leichtigkeit der Interpretation. Sein moderner Faun zieht sämtliche Register der Verführung : der Hollywood-Dandy der 40er und 50er Jahre wird mit gleichem Augenzwinkern vorgeführt wie das metrosexuelle Model auf dem Catwalk.

Sylvia Camardas Choreografie La femme dans le faune bildet den eindrucksvollen Abschluß eines insgesamt sehr empfehlenswerten Abends.  Der von ihr verkörperte weibliche Faun tanzt nicht mehr in einer arkadischen Lichtung, sondern, einsam und vereinsamt, im kalten Konsumwald der Postmoderne. Keine Schärpe mehr, die ihm als Fetisch dient – diese Funktion übernehmen Alkohol und die Designer High-heels. Das technische Können und die schier unerschöpfliche Kreativität, gepaart mit einem überbordenden Temperament, machen wieder einmal deutlich, welch große Tänzerin Sylvia Camarda ist.

Bei all der Diversität dieser Interpretationen sorgen Rekurse auf die Tonsprache Debussys sowie auf Nijinskis Bewegungsinventar für eine sichtbare Markierung der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Prätext. Dass auch dies jedoch in gebrochener Form erfolgt, verdeutlicht der Ausruf Jean-Guillaume Weis’ bei den ersten Klängen der Prélude à l’après-midi d’un faune : « La petite flute-là ! C’était pas mal… »

Les après-midi d’un faune. Spectacle de Noël

Etna ! Choreografie und Tanz: Camille Mutel / Video: Marie Drach / Musik: Loïc Antzemberger

Faune. Choreografie und Tanz: Jean-Guillaume Weis / Musik: Pee Wee King [et al.]

Beyond identity. Choreografie und Tanz: Hannah Ma /Musik: Pierre Henry [et al.]

Ces nymphes, je les veux perpétuer. Choreografie und Tanz: Gianfranco Celestino / Musik: Gianfranco Celestino [et al.]

La femme dans le faune. Choreografie und Tanz: Sylvia Camarda / Musik: Claude Debussy

Studio TROIS C-L, 16.-19. Dez. 2010

Verwendete Literatur

Clarinval, France: « Casse-Noisette » revu et corrigé, in: Le Jeudi, 17.12.2009.

Dies.: Les cygnes nous font signe, in: Le Jeudi, 18.12.2008.

Fédorowski, Vladimir: L’histoire secrète des Ballets russes, Monaco 2002.

Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien, Reinbek bei Hamburg 2002 (= Rowohlts Enzyklopädie im Rowolt Taschenbuch Verlag ; 55637).

Pressereaktionen

Chimienti, Pablo: Les après-midis d’un faune, in: Le Quotidien, 17.12.2010.

Cimatti, Grégory: Faune en liberté, in: Le Qoutidien, 15.12.2010.

Clarinval, France: les faunes sont lâchés, in: Le Jeudi, 16.12.2010.

Hengen, Emile: Abstraktion der Ästhetik, in: Tageblatt, 16.12.2010.

Rolland, Marie-Laure: Un faune intemporel, in: Luxemburger Wort, 16.12.2010.

18.12.2010

 

Daniela Lieb

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